Es herrschte völlige Dunkelheit. Die Schwestern atmeten schwer, sie fühlten die Röte auf ihren Wangen. Auch nach so unendlich vielen Jahren war das immer noch ein ganz besonderer Moment. Ehrfurcht erfasste sie auch nach so unzählbaren Malen jedes Mal von Neuem.
Das Leuchten war immer schwächer geworden, es hatte zu flackern begonnen und dann war der Moment gekommen. Ein kurzes Scharren der Scherenblätter und im geschäftigen Treiben der Höhle, in der sie saßen, hatte sich ein Raum der absoluten Stille gebildet, eine Insel des Friedens. Die beiden betrachteten liebevoll das letzte Glimmen. Das gehörte dazu. Es gab einen festen Ablauf in dem, was sie taten und der wurde strikt eingehalten.
Sie erhoben sich von ihren Plätzen und traten aus der hohlen Eibe hinaus in die Dunkelheit der sternlosen Nacht. Es war die Gelegenheit, über ihr vollbrachtes Werk nachzusinnen, bevor sie wieder an die Arbeit gingen.
So viele Geschichten waren erzählt worden, heilsame und herausfordernde. Sorgfältig hatten sie sich um ihr Werk gekümmert. Die Zuteilerin hatte mit größter Sorgfalt den Faden gleichmäßig zu einem Knäuel aufgewickelt. Das war ihre Aufgabe. Das und ihre dritte Schwester zu rufen, wenn sie spürte, dass es Zeit war. Darin bestand ihre Gabe. Sie fühlte es, wenn ein Faden lang genug gesponnen war und es Zeit war, das Knäuel zu beenden.
Ihre Schwester, die Spinnerin, verstand es vortrefflich, die kunstvollsten Garne zu spinnen. Die Fäden konnten stark, stabil und belastbar sein, aber auch zart, fein und fragil. Die Besonderheit ihrer Fäden lag darin, deren Beschaffenheit abzuwechseln. Wenn der Faden einmal etwas stärker oder robuster war, gefiel es der Spinnerin oft, darauf eine Weile einen zarteren und dünneren Abschnitt zu spinnen. Nur selten spann sie einen gleichmäßig dünnen oder robusten Faden. Sobald sie damit begann zu spinnen, begann auch der entstehende Faden, eine feine pulsierende Helligkeit auszustrahlen.
Sobald die Zuteilerin die Fertigstellung des Knäuels erkannt hatte, rief sie die dritte Schwester dazu. Die dritte Schwester, die Unabwendbare, brachte, wenn sie gerufen wurde, immer ihre alte große Schere mit, mit der sie den fertigen Faden abschnitt. Manchmal sah sie einen etwas wehmütigen Ausdruck in den Augen ihrer Schwestern, vor allem die Spinnerin schien manchmal das Gefühl zu haben, ihre Arbeit noch nicht beendet zu haben. Aber es gab einen festen Ablauf und der besagte, dass der Faden durchtrennt würde, sobald die Zuteilerin ihn für lang genug befunden hatte. Die Unabwendbare verstand die virtuosen Formen der verschiedensten Gespinste ihrer Schwester nicht, sie sah nur das vollendete Knäuel, das entstand, nachdem sie ihre Arbeit getan hatte.
Der Ablauf besagte, dass nach dem Vollenden eines Knäuels Spinnerin und Zuteilerin vor die Höhle treten sollten, um ihren Geist zu reinigen und zu klären. Auf dem Weg zum Höhlenausgang legte die Zuteilerin das fertige Knäuel behutsam in den dafür vorgesehenen Korb. Es hieß, dass die fertigen Garne einer mächtigen und wissenden Frau gebracht wurden, die seit dem Anbeginn der Zeiten aus diesen Fäden ein kunstvolles Netz wob. Es hieß auch, dass sie verschiedene Knäuel derartig miteinander verarbeitete, dass es aussah, als würden sie miteinander tanzen, manchmal wild und manchmal ruhig und innig. Sie schien auch die unterschiedliche Beschaffenheit der einzelnen Fäden zu schätzen wissen und dachte sich in den immer wiederkehrenden Runden des Netzes neue und vielfältige Muster aus, die sie erschuf. Ihr Name war lange schon vergessen, obgleich ihr Netz, das sie kreisförmig webte, weithin berühmt war.
Spinnerin und Zuteilerin traten also aus der Höhle. Sie passierten die beiden Holunderbüsche, die den Eingang flankierten. Es war Nacht und kein Stern stand am Himmel. Die Dunkelheit dauerte nun schon auffallend lange. Alles war in einem wiederkehrenden Rhythmus eingebunden, das Spinnen, das Bemessen und das Durchtrennen, ebenso das Verweben der Garne oder das Atemschöpfen vor dem nächsten Faden. Und auch ein Kommen und Gehen von Hell und Dunkel gehörte dazu. Nun hatte die Spinnerin das Gefühl, das der neue Tag schon lange auf sich warten ließ...
Die Stille und die undurchdringliche Dunkelheit hüllten sie ein und beide wurden sie ruhig und ihre Gedanken, welche es auch immer waren, zogen dahin.
Wie auf ein geheimes Zeichen wandten sie sich um und traten wieder in die Eibenhöhle ein.
Sie bahnten sich ihren Weg zwischen den unzähligen anderen Schwestern, ihren Spinnrädern und Körben mit fertigen Knäueln. Sie waren zahllose Schwestern, denn tausende und abertausende Fäden wollten gleichzeitig gesponnen werden. Die leicht vor sich hin pulsierenden Fäden erleuchteten die Höhle mit einem schwachen, warmen Licht. Sie sahen ihre Schwester, die Unabwendbare, wie sie gerade ihre Schere wegsteckte und sich von einem Spinnrad abwandte. Alles hatte einen festen, wiederkehrenden Ablauf.
Die Schwestern nahmen ihre Plätze ein und die Spinnerin machte sich gerade daran, einen neuen Faden zu beginnen, als sie eine Berührung an ihrem Fuß spürte. Ein Eichenblatt war vom Wind in die Höhle geweht worden. So etwas geschah sonst nie. Versonnen blickte sie zum Eingang der Höhle und ihre Augen weiteten sich.
Am Horizont war ein Schimmern zu sehen, das schnell an Kraft zunahm. Die Zuteilerin folgte ihrem Blick und auch all die anderen Schwestern hielten in ihrem Tun inne und sahen den neuen Morgen dämmern.
Ein erster Sonnenstrahl kletterte über den Horizont und fand seinen Weg genau in die hohle Eibe. Er fiel auf den neuen Faden in der Hand der Spinnerin und ein strahlendes, majestätisches Leuchten durchdrang den Faden, heller als alle anderen Fäden in der Höhle. Während Spinnerin und Zuteilerin noch ehrfürchtig den Faden betrachteten, begann rings um sie herum wieder das stetige Treiben. Geschichten wurden erzählt, Fäden gesponnen und aufgewickelt.
Während sie den neuen Faden an ihre Schwester weiterreichte, raunte sie mit ihrer alten, rostig klingenden Stimme:
„Das Licht ist neu geboren“.
von Birdrider